Rassistische Anschläge in Deutschland | “Ich wurde zum Überleben verurteilt”

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Es war der erste bekannte rassistische Anschlag im wiedervereinten Deutschland, bei dem Menschen ums Leben kamen. In Mölln starben 1992 drei Türkei-stämmige Menschen in den Flammen. t-online spricht mit einem Überlebenden.Bis zu diesem Tag war der kleine schleswig-holsteinische Ort Mölln die “Eulenspiegel-Stadt”. Verschlafen, gepflegt, schön. Doch in der Nacht auf den 23. November 1992 ändert sich dieses Bild schlagartig. Zwei Rechtsextreme werfen zwei Brandsätze in Häuser, die von türkischen Familien bewohnt werden – und die in dieser Nacht um ihr Überleben kämpfen. Drei Menschen schaffen es nicht, sterben in den Flammen. Neun Menschen werden teils schwer verletzt. Dieser rassistische Anschlag ist eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ibrahim Arslan war damals in einem der brennenden Häuser gefangen. Seitdem kämpft er, der in den Flammen seine Großmutter, seine Schwester und seine Cousine verlor, für eine angemessene Erinnerungskultur in Deutschland und auch für Aufklärung. Er sagt: “Der Umgang mit den Betroffenen ist der zweite Anschlag, den sie erleben müssen.” t-online hat ausführlich mit Ibrahim Arslan gesprochen. t-online: Herr Arslan, Sie waren sieben Jahre alt, als der Brandanschlag auf das Haus Ihrer Familie verübt wurde. Woran genau können Sie sich noch erinnern?Ibrahim Arslan: Nur noch an Bruchstücke, die in der Küche stattgefunden haben: Ich erinnere mich an brennende Töpfe, an einen roten Hintergrund. Ich saß unter dem Tisch.Drei Ihrer Familienmitglieder sind gestorben. Wie haben Sie überlebt?Meine Oma hat mich in nasse Handtücher gewickelt, mich aus meinem Zimmer geholt und in die Küche gebracht, in der Hoffnung, dass sie nicht brennen würde. Und tatsächlich blieb die Küche, bis ich es hinausschaffte, weitestgehend verschont. Meine Oma hat ihr Leben für meines geopfert. Sie wurde später tot unter einem Dachbalken gefunden.Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Oma?Ich war sehr jung. Aber ich habe noch einige schöne Erinnerungen. Beispielsweise, dass wir sie von der Arbeit abgeholt und uns dabei hinter einem Auto versteckt haben, um sie zu erschrecken. An sie als konkrete Person kann ich mich nicht mehr erinnern. Meine Oma wurde mir an diesem Tag genommen.Haben Sie noch Flashbacks und Albträume?Ja, noch relativ oft. Ich bin dann wieder in der Küche und erlebe alles noch einmal. Das passiert zum Beispiel, wenn ich etwas Brennendes rieche oder sehe, wie die Geflüchteten-Unterkünfte wieder brennen. Aber manchmal reicht schon ein Ofen, in dem irgendwas anbrennt.Wie haben der Brand und der Tod Ihrer Oma, Ihrer Schwester und Cousine, Ihr Leben danach beeinflusst?Dieser Tag hat in meinem Leben alles verändert und von da an bestimmt. Ich musste mich schon früh mit Rassismus befassen. Als Kind dachte ich, das ist normal, weil damals in Deutschland mehrere Häuser von Migranten gebrannt haben. Ich dachte, jeder befasst sich damit. Rückblickend war das ein komplett verstörender Zustand für ein Kind. Ich hatte aber keine andere Wahl.Was genau meinen Sie damit?Ich meine damit, dass ein Betroffener einer Gewalttat keine Wahl hat, ob er sich dem Ganzen aussetzt oder nicht. Wer eine Gewalttat vorhersieht, kann die Entscheidung treffen: Ich laufe weg an einen geschützten Ort. Wir konnten das damals nicht. Ich wurde auch nicht gefragt, ob ich den Anschlag überleben will. Es wurde für mich entschieden, dass ich überlebe. Und gleichzeitig habe ich mir das auch nicht ausgesucht, weiter in dieser rassistischen Gesellschaft zu leben. Deshalb sage ich immer: Ich wurde zum Überleben verurteilt. Und deswegen stelle ich seitdem die Frage nach dem Warum. Eine andere Möglichkeit, als mich antifaschistisch zu engagieren, gab es danach für mich nicht.Eine vielleicht unpassende Frage, aber das klingt, als wünschten Sie sich, bei dem Brand gestorben zu sein? Plagen Sie Schuldgefühle?Das ist keine unpassende, sondern eine berechtigte Frage. Wir Betroffenen stellen uns diese Frage tatsächlich jeden Tag. Was wäre passiert, wenn wir gestorben wären und die Getöteten überlebt hätten? Ich bin kein praktizierender, aber ein gläubiger Moslem. Und wäre ich gestorben, hätte ich die Möglichkeit gehabt, ins Paradies zu kommen. Ich hätte keine Traumata, die mich nachts wach halten, ich hätte keine Schuldgefühle, weil ich überlebt habe und meine Oma, meine Schwester und meine Cousine gestorben sind. Wir alle haben im selben Zimmer geschlafen in dieser Nacht. Warum habe ich überlebt?Stellt sich der Rest Ihrer Familie die gleichen Fragen?Eigentlich alles, was ich Ihnen erzähle, gilt auch für meine Familie. Nur geht jeder anders damit um. Manche können immer noch nicht über das Geschehene reden. Übrigens auch, weil sie das Gefühl haben, die Gesellschaft hört ihnen nicht zu. Den Betroffenen wird nicht zugehört. Dass sich das ändert, dafür kämpfe ich.Gilt der Vorwurf auch für die Stadt Mölln? Wie waren damals die ersten Reaktionen?Man muss tatsächlich unterscheiden zwischen Institutionen und der Nachbarschaft. Wir waren ja ein Teil der Stadt, und es gab auch viel Mitgefühl von Nachbarn und aus dem direkten Umfeld. Aber der Anschlag und damit für viele auch wir haben das tolle Bild der Stadt zerstört. Die “Eulenspiegel”-Stadt wurde zur “Rassismus”-Stadt. Wir Opfer wurden daher schnell zum Schandfleck erklärt, der den Blick auf die Idylle zerstört. Uns wurde ein Stempel aufgedrückt und den gibt es noch heute. Deshalb sind wir später weggezogen in eine Großstadt, in der uns keiner kannte. Die Institutionen in Mölln haben uns nicht gut behandelt.Sie mussten zunächst sogar wieder in das Haus einziehen, in dem Ihre Verwandten gestorben waren.Ja. Wir wurden dazu zwar nicht gezwungen, es gab aber keine adäquaten Alternativen. Es war schrecklich, wieder in den Räumen zu leben, in denen uns so viel Leid zugefügt worden war. Ich habe in dem Zimmer geschlafen, in dem meine Schwester und meine Cousine verbrannt sind. Ich musste die gleichen Treppen runterlaufen, über die das Feuer hochgekommen ist, und ich musste in der Küche kochen und essen, in der ich um mein Leben gefürchtet hatte. Es waren traumatisierende Jahre, gerade durch den Umgang der Verantwortlichen mit allem. Das war der zweite Anschlag.Sie machen dafür die Institutionen der Stadt verantwortlich?Ja. Wenn die Justiz und die Institutionen ihre Betroffenen nicht schützen, dann ist das keine Gerechtigkeit. Das ist ein zusätzlicher Gewaltakt. Wir Betroffenen haben kein Vertrauen in den Staat, in die Justiz und auch nicht in die Gesellschaft. Auch die haben uns all die Jahre alleine gelassen. Es hätte ja auch eine gesamtgesellschaftliche Welle der Empörung geben können, darüber, dass wir wieder in das Haus einziehen mussten. Aber die gab es nicht.Aber es gab auch Anteilnahme wie Briefe an Sie und Ihre Familie.Es wurden über hundert Briefe geschrieben an uns und unsere Familie. Aus ganz Deutschland, aus Griechenland, Amerika, der Türkei. Die waren an die Stadt oder an die Teestube adressiert worden, weil wir ja zunächst keine Anschrift mehr hatten. Aber: Diese Briefe haben wir erst 27 Jahre nach dem Anschlag bekommen. Sie wurden nach dem Anschlag der Stadt Mölln übergeben. Und die hat sie nicht an uns weitergereicht, sondern an das Staatsarchiv. Nur durch einen Zufall haben wir davon erfahren. Und erst 2019 haben wir die Briefe abholen können.Ist diese Form des Umgangs mit Opfern ein Einzelfall?Leider nein. Ich bin mit vielen Betroffenen vernetzt. Mit den Hinterbliebenen der Anschläge von Hanau, dem Nationalsozialistischen Untergrund, Rostock-Lichtenhagen. Wir alle sind überzeugt: In Deutschland findet Gedenk- und Erinnerungskultur ohne die Betroffenen statt.Was meinen Sie damit?Ich gebe gerne Beispiele: In Mölln gibt es mehrere Gedenkveranstaltungen, die der Familie und die der Stadt. Die Stadt will daran nichts ändern. Sie fragen uns auch nicht mehr, wie sie mit uns gemeinsam eine Veranstaltung organisieren könnten. Und das Gleiche erzählen mir Betroffene aus Rostock. Das Gleiche erzählen mir Angehörige der Opfer des NSU und auch aus Hanau. In Mölln gab es auf der städtischen Gedenkveranstaltung vor zehn Jahren Reden von Politikern. Das war okay. Doch die Politiker, unter anderem der damalige Ministerpräsident und auch Mitglieder des Landtages, wollten anschließend los, ohne die Reden der Betroffenen anzuhören. Wir haben die Politiker dann auf dem Weg nach draußen angesprochen, warum sie einfach gehen. Die Politiker bezeichneten unsere Forderung, dass sie auch unsere Reden anhören sollten, als respektlos. Wir dagegen sagen: Die Politiker haben respektlos gehandelt.Sie organisieren zum Gedenktag jetzt immer eine “Möllner Rede im Exil”. Was hat es damit auf sich?Die “Möllner Rede” wurde 2007 ins Leben gerufen und war immer ein Programmpunkt des städtischen Gedenkens. Es war der einzige, an dem wir uns beteiligen durften. Und 2012 haben wir Frau Beate Klarsfeld zu der Rede eingeladen. Sie hatte einst Bundeskanzler Kiesinger geohrfeigt und ihn als Nazi bezeichnet. Dieselben Politiker, die es als respektlos bezeichneten, dass wir sie für ihr vorzeitiges Verlassen der Gedenkveranstaltung kritisiert hatten, strichen danach die Rede aus dem offiziellen Programm. Seitdem veranstalten wir die “Möllner Rede im Exil” in Eigenverantwortung immer an anderen Orten. Dieses Jahr hat sie in Hamburg stattgefunden. Wir wollen die Gedenkkultur verändern. Die Betroffenen müssen ins Zentrum des Gedenkens.Was muss sich ändern in Deutschland?Es muss aufhören, dass über die Köpfe der Betroffenen hinweg gesprochen wird. Und die Institutionen müssen endlich hinter und neben den Betroffenen und Angehörigen stehen und nicht länger vor ihnen.Sie sind sehr, sehr direkt in Ihrer Kritik. Damit scheinen manche Menschen nicht umgehen zu können, oder?Es ist mir tatsächlich egal, was Menschen über mich denken, die dazu beitragen, dass es Betroffenen in ihrer Trauer schlecht geht. Es ist mir egal, welche Positionen diejenigen haben, denen ich meine Meinung zur Gedenkkultur in Deutschland sage. Sie müssen es ertragen, dass es eine Konsequenz hat, wenn Betroffene ignoriert werden.Vielen Dank, Herr Arslan.Danke Ihnen.
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